In der zeitgenössischen Kunst finden sich viele Arbeiten, die mit reflektierenden Spiegelflächen zwischen sozialgesellschaftlicher Deutung und Selbsterkenntnis einzuordnen sind. Der Spiegel ist Material und Gegenstand diskursiver Bearbeitung. Als Objekt der Darstellung hat er kultur- und kunsthistorisch seit Jahrhunderten eine große Bedeutung: von Selbstbetrachtungen, dem Abbild der Seele bis hin zum Motiv des Vergänglichen oder von Übergängen realer Welten in magische ParallelUniversen. Dabei spielt der symbolisch und formal ästhetische Aspekt, aber auch der psychologische und virtuelle Blick in der Spiegelikonographie bis heute eine wesentliche Rolle. Der Spiegel ist ein Medium von Selbstwahrnehmung, von Ich-Konstruktionen sowie von anderen Projektionsflächen und Räumen. Seine komplexe und vielschichtige Wahrnehmungsbedeutung ist viel untersucht und beschrieben worden. Vor allem der Text von Jaques Lacan über das Bilden der Ich-Funktion spielt in der Auseinandersetzung mit Bildtheorie und Kunstproduktion eine nicht unwesentlich Rolle.
Als Metapher der Reflexion erweitert der Spiegel den Blick der Selbsterkenntnis und Selbstbetrachtung. Die Ausstellung versammelt unterschiedliche aber auch verwandte Positionen, die das Wechselverhältnis des Betrachters zur passiven Fläche untersucht und ihn über die Konfrontation mit dem Abbild gleichzeitig zum handeln auffordert. Der flüchtige und vergängliche Moment wird von den Künstler*innen nicht festgehalten, sie blicken auch auf die andere Seite, „hinter“ den Spiegel und lassen auf diese Weise eine Vielfalt von imaginärer Spiegelungen und neue Perspektiven zu. Ihre Arbeiten ermöglichen eine andere Wahrnehmung: das narzisstische Spiegelbild und der darin erkennbare Raum ist gestört oder verschwindet. Der Blick auf sich selbst wird zurückgeworfen. Betrachten wir die Spiegelbilder genauer, eröffnen sich uns eine Vielzahl von Zwischentönen, abwechselnd von realen und virtuell abstrakten Flächen, von Innen- und Außenräumen, von Stimmungen und Zuständen, in der sich Vergangenheit, Gegenwart und möglicherweise auch Zukunft spiegeln. Die Faszination für das reflektierenden aber auch verzerrende Material mit dem erkundet wird, überdenken Begegnungen mit sich und uns selbst. Es ist nicht mehr nur, der auf sich selbstgerichtete Blick eines künstlerischen Narziss, sondern vor allem der dem Betrachter zugewandte und sich selbst spiegelnde Blick und damit auch einer der gesellschaftliche Befindlichkeit reflektiert.
Während mit der Soundinstallation von Susanne M. Winterling die Vorstellung von imaginären Bruchstellen zu hören sind, spüren wir diese mit einer geradezu physischen Präsenz bei Niklas Goldbach in For what it's worth und Judith Fegerl Follow the white Rabbit. Sichtbar hingegen wird sie über die Selbstbetrachtung am eigenen Körper bei Birgit Jürgenssen in Jeder hat seine eigene Ansicht. Ihr eigene Blick unterscheidet sich von dem des Betrachters, da er weder sehen kann, was sie sieht, noch kann er sie richtig sehen. Ähnlich verhält sich der gestörte Blick in den Bildern Black Mirrors von Marta Sforni. Der Raum wird darin nicht reflektiert - Tiefen sind zu sehen. Der Blick geht hinter den Spiegelflächen weiter.
Neue Wahrnehmungs- und Denkebenen jenseits des Bekannten und Vertrauten öffnen sich in Alexandra Baumgartners Installation Reversion. Fragmentierte Spiegelobjekte zwischen Durchblick und Leerstellen zeigt Sali Muller in The Missing Part und Alex Lebus in Einteiler. Ähnlich verzerrt wird der Blick in den Spiegeln von Eberhard Bosslet. Radikaler verhält es sich mit der Spiegelfläche bei Alicja Kwade, sie liegt zerbrochen, verkehrt und verwehrt auf dem Boden. Blick - Störungen auch bei Thomas Rentmeister, der eine verschmierter Fläche hinterläßt und auf diese Weise die Betrachter auf ihre alltägliche und ritualisierte Situation von Selbstbetrachtungen lenkt. Nezaket Ekici hingegen orientiert sich mit ihrer Performancedokumentation Self Deliverance an der Caravaggio Darstellung des Narziss, denkt das Bild weiter und wirft als ein Befreiungsakt aus der Gefangenschaft selber ein Stein ins Wasser.