Mit der umfangreichen Einzelausstellung H E R E A N D T H E R E | I C I E T L À verwandelt die Bildhauerin Sali Muller den gesamten Ausstellungsort in einen sich ständig verändernden Reflexionsraum und bewirkt auf diese Weise beim Publikum eine ästhetische und physische Erfahrung, die über die Selbstbetrachtung hinausgeht. Die spiegelnden Oberflächen entgrenzen den Raum und werden zum Vermittler zwischen außen und innen, dem hier und dort.
Die Künstlerin konfrontiert die Besucher gleich zu Beginn der Ausstellung mit einem scheinbar liegen gelassenen Haufen aus Sand (Pyramide, 2019). In seiner unspektakulären Form erinnert er an Baustellen und ist hier nicht zwangsweise sofort als Teil einer Sanduhr im Stillstand erkennbar. Muller verhandelt die Bedeutung von Zeit - Abschnitten neu und pendelt zwischen vorzeitigen, ungeklärten Abläufen und Unendlichkeit. Auf diese Weise erweitert sie die allgemein bekannten allegorischen Bilder europäischer Kunstgeschichte und übersetzt sie in eine Gegenwart aus Brüchen. In ihrer aktuellen Ausstellung bündelt sie mit konzeptionellen bildhauerischen Positionen eine Reihe von komplexen Themen, die für ihr ganzes Schaffen von Bedeutung sind. Sie erforscht mit künstlerischen Mitteln gegenwärtig relevante Fragestellungen, im besonderen die der Identität, Geschlechterrollen und (Selbst-)Repräsentanz vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Veränderungen und in Zeiten von Selbstoptimierung. Ähnlich den individuellen Versuchen sich in einem sozialen Gefüge sichtbar zu machen, markiert Sali Muller mit lichtreflektierenden Installationen, blendenden Objekten und Projektionen den gesamten Ausstellungsort. Ihre visuellen „Kommentare“ werden zum Abbild von Zeit, in der Täuschungen zunehmend eine bedeutende Rolle spielen.
Mit dem von ihr zumeist bevorzugten Material von Spiegelflächen öffnet sie einen assoziativen Denkraum und zitiert gleichzeitig mit ihren Appropriationen en passant jüngste Kunstgeschichte. Wie schon bei den Mirrored Cubes (1965) von Robert Morris werden die Ausstellungsbesucher mit den spiegelnden Würfeln Fragile Gebilde (2019) von Sali Muller wieder zum Bestandteil der Kunst. Die darüber sichtbar gewordene körperliche Anwesenheit entwickelt eine bewusst spürbare Beziehung zu den sich darin spiegelnden Objekten, dem Raum und letztendlich auch zu sich selbst und dem Fremden.
Als Objekt der Darstellung hat der Spiegel kultur- und kunsthistorisch seit Jahrhunderten eine große Bedeutung: von Selbstbetrachtungen, dem Abbild der Seele bis hin zum Motiv des Vergänglichen oder von Übergängen realer Welten in magische Paralleluniversen. Sie lassen auf diese Weise eine Vielfalt von imaginären Spiegelungen zu. Als Metapher der Reflexion erweitert der Spiegel den Blick der Selbsterkenntnis und Selbstbetrachtung. Sali Muller nutzt die Spiegel als Ausgangspunkt ihrer künstlerischen Praxis, um ihn wieder zu „entspiegeln“, ihn zu brechen oder zu fragmentieren. Die nicht vollendeten Formen, die sie einfach stehen oder liegen lässt, sind eine ihrer künstlerischen Eigenarten und immer wiederkehrendes Erkennungsmerkmal mit dem sie uns Denkaufgaben stellt. Exemplarisch dafür ist ihre mehrteilige Arbeit The Missing Part (2017). Wie rätselhafte Spuren fordern die Objekte auf, sie entweder wieder zusammenzustellen, neu zu arrangieren oder sie weiterzudenken.
Das sonst narzisstische Spiegelbild und der darin erkennbare Raum ist gestört oder verschwindet. Der Blick auf sich selbst wird nur noch in Bruchstücken zurückgeworfen. Es entsteht ein ambivalentes Wahrnehmungsexperiment, abwechselnd von realen, virtuellen oder fast surreal anmutenden Bildern von Innen und Außen, von Stimmungen und Zuständen, in denen sich Vergangenheit, Gegenwart und auch Zukunft spiegeln.
Die Wahrnehmungsbedeutungen von Jetzt, Später bzw. (Un)Endlichkeit verschieben und verstärken sich - außen noch reale und jetzt im Inneren surreal wirkende Wolkenformationen in immer gleichen, sich wiederholenden und niemals endenden Bewegungen (o.T., Wolkenbilder, 2019). Die neuen Wolkenbilder verwandeln den Raum in eine magisch sinnliche Projektionslandschaft. Sie erinnern an den Meister der Täuschung René Magritte, der sich in seinem Werk stark mit der Wahrnehmung von Wirklichkeit beschäftigt und versucht hat, das Unsichtbare über das Sehen und Denken offenzulegen: die Dinge anders zu sehen. Muller lenkt auf diese Weise den Blick hinter die lichtreflektierenden Flächen und Motive. Mit der mehrteiligen medialen Bodeninstallation werden die allgemeinen Sehgewohnheiten aufgehoben. Es findet ein Perspektivwechsel von oben und unten statt, bei dem nicht nur die Raumsituation neu verhandelt wird. Das darin vermutete Spiegelbild in der gewohnt reflektierenden Oberfläche verschwindet hinter den Wolken. Gleichzeitig öffnet sich der Boden und verbindet das Hier mit der Vorstellung dahinter.
Das Nicht-Abbildbare beschäftigt die Künstlerin auf eine fast obsessive Weise in ihrem gesamten, noch jungen aber bereits umfangreichen Oeuvre. Mit den Überblendungen und Illusionen (Der Moment in dem sich alles dreht, 2019) entstehen neue Zeiträume - sie verführen das Publikum hinter die rätselhaften Flächen und konfrontieren es mit Selbstbetrachtungen und dem unbewussten und verborgenen Inneren. Nicht nur die Objekte sind in Bewegung sondern auch die Gedanken der Betrachter. Regelmäßig kreisend bewegen sich mehrere Spiegelflächen und erzeugen eine hypnotisierende Wirkung. Die mehrteilige kybernetische Skulptur aktiviert den Raum und die gesamte Motorik bzw. Bewegungsabläufe darin. Sali Muller überführt Alltagsgegenstände (Au bon vieux temps, 2018) in den Kunstkontext und fordert zu Reflexionen über die Zeitfrage auf, in dem temporäre und spekulative Erweiterungen mit Imagination und Realität verschmelzen. Mit der Jalousienarbeit Das Zeitfenster, 2017 übertreten wir die Schwelle hinter dem Regenbogen und folgen in unserer Vorstellung dem weißen Kaninchen in das Wunderland...
Einige Arbeiten sind eigens für diese Ausstellung entwickelt worden und beziehen sich auch auf die Architektur und Geschichte des Gebäudes. Die Stärke von ortsspezifischen Installationen ist der Dialog mit den Räumen, der hier im Centre D’Art Contemporain mit einer Spiegelarbeit an der Fassade beginnt. Die Fläche reflektiert das Umfeld immer wieder in neue und unendlich viele flüchtige Bilder. Mit Mirage (2019) verbindet Muller formal das Äußere mit dem noch unbekannten Inneren. Erst nach eine Weile und am Ende der Ausstellung angekommen erschließt sich mit der Soundinstallation Puls (2019) das Verborgene dahinter. Die Arbeit markiert einen zeitlich begrenzten Ablauf und vorläufigen Endpunkt. Oder verstummt plötzlich und unerwartet das mahnende Ticken einer Uhr und verändert so das Dasein in ewige Stille?
Während die Spiegelobjekte in der Minimal Art keine Ambitionen für Assoziationen hervorrufen wollten, verlassen bei Sali Muller die geometrischen Formen und Alltagsgegenstände das reduzierte und raumbewusste Wechselspiel von außen und innen zugunsten von raumübergreifenden Reflexionen, neuen Erfahrungen zwischen Selbstbetrachtung und Selbstwahrnehmung, um gleichzeitig auch auf die Dimension von Zeit und ihrer Vergänglichkeit zu verweisen. Zusammenfassend untersucht die materialikonographische Ausstellung mit ihrem partizipativen Anspruch unsere Wahrnehmung von Wirklichkeit und Zeitlichkeit und entwickelt gleichzeitig ein ungeklärtes Verhältnis von beobachten und beobachtet werden. Darüber hinaus sprengen die Spiegelbilder die Grenzen des Raumes und bewirken beim Publikum ein sowohl körperliches als auch atmosphärisch-ästhetisches Erlebnis.